Die Zebras und die Hauptstadt: Erste Begegnungen mit Berliner Clubs 1919/1922
von Martin Blasius
Wenn der MSV heute in der 3. Liga bei Viktoria Berlin spielt, werden Viele unter uns wehmütig an frühere Auftritte in der Hauptstadt denken: Die Pokalendspiele im Olympiastadion, aber auch manches der seit den 1960ern regelmäßigen Pflichtspiele gegen Berliner Vereine: In der 1. und 2. Bundesliga Hertha BSC, Tasmania (Stichwort „Auswärtsrekord 1966“), Tennis Borussia, den SC Charlottenburg, Blau-Weiß 90 („Aufstieg 1991“) und Union, in dieser Drittligasaison nun Viktoria. Erste Freundschaftsspiele gegen Hauptstadtclubs hat es gar schon vor etwa einem Jahrhundert gegeben – genug Anlass hier zu zeigen, dass die Zebras schon damals überregional respektabel waren.
Nach dem Ersten Weltkrieg sieht Deutschland laut Sporthistoriker Erik Eggers einen spektakulären Fußballboom, und auch die Zebras entwickeln sich schnell wieder. Schon 1919 stellen sie so sechs Teams. In der Bezirksliga belegt man derweil nur den siebten Platz – und kommt Ostern bei Erstligist Norden-Nordwest doch zum ersten Auftritt in Berlin. Dort wird Fußball seit den 1880ern gespielt, vereinheitlicht ist der bürgerliche Sport aber erst 1911 im Verband Brandenburgischer Ballspielvereine worden. Rekordmeister sind 1919 mit je drei Erfolgen Hertha 92 und der BTuFC Viktoria 1889, also die Vorgänger des Bundesligisten und unseres heutigen Gegners. Die größten Erfolge hat Viktoria aber mit den Deutschen Meisterschaften 1908 und 1911 erreicht.
Auch der Sport steht 1919 allerdings unter dem Eindruck des damaligen Umbruchs in Deutschland: In der Novemberrevolution ist 1918 die Monarchie gefallen, radikalere Umwälzungen – 1919 während des „Spartakusaufstands“ im Januar oder der Berliner Märzkämpfe gewaltsam versucht – wehren Sozialdemokraten und Bürgerliche auch unter Einsatz rechter Freikorps ab. Das Berlin der unmittelbaren Nachkriegszeit nennt Historiker Bernd Stöver so vornehmlich chaotisch. Die im Januar gewählte Nationalversammlung erarbeitet in Weimar derweil eine Verfassung, deren Verabschiedung im August die (jedoch vor allem durch den Versailler Vertrag mit seinen hohen Reparationen vorbelastete und weiter durch Radikale bedrohte) Weimarer Republik etablieren wird.
Rund einen Monat nach den Märzunruhen mit etwa 1.200 Toten reisen die Zebras Ostern 1919 also nach Berlin zur Sportlichen Verbindung Norden-Nordwest 1898. Die blickt auf drei frühe Meistertitel eines kleineren Verbandes sowie eine Teilnahme an der Deutschen Endrunde zurück und holt 1919 fast die Berliner Meisterschaft (was 1922 dann glücken wird). Laut Festschrift von 1958 stellt man eine schlagstarke Truppe, die nun eine wahre Flut von Angeboten erhält. Für ihr erstes Treffen mit der Duisburger Spielvereinigung Meiderich (anderswo Duisburger Sportvereinigung und Meidericher Spielverein) erwartet die Berliner Morgenpost im April 1919 eine sehr gute, kürzlich gegen die westdeutschen Spitzenteams Duisburger Spielverein mit 2:0 sowie Essener Turnerbund mit 5:4 erfolgreiche Elf. Ihre Aufstellung kennen wir nicht, 1919 entsteht jedoch dieses Teamfoto:
Die Hauptstadt-Premiere der Zebras steigt am Ostersonntag, dem 20.04.1919 auf dem N.N.W-Platz in Reinickendorf, so die Morgenpost. Tatsächlich liegt die Anlage aber im ländlichen Ausflugsort Schönholz (noch kein Teil Berlins). Per Vorortbahn bestand hier eine günstige Fahrverbindung für die immer zahlreicheren Zuschauer. Der Bahndamm diente als Stehhang, ein dichter Zaun ermöglichte das Kassieren von Eintritt. 1919 war ein Ausbau für 30.000 geplant, die Sandberge türmten sich schon – ob im April, ist unbekannt. Letztlich wird NNW aber auf den zentraleren „Schebera-Platz“ umziehen und diesen 1923 erwerben – man zählt zu den reichsten Vereine Deutschlands.
Im Duisburger General-Anzeiger (DGA) liest man dann, wie spielstarke Zebras mit Energie und Ausdauer und nach hartem und spannendem Kampf mit 3:2 Toren gesiegt haben, wobei die Gastgeber in dieser Serie zum ersten Mal auf eigenem Platz unterlagen. In Berlin berichtet die Morgenpost knapp über sehr schöne Leistungen: Bis zur Halbzeit ist „NNW“ durch Haupt und Montag 2:0 in Front gegangen, dann jedoch hat Meiderich aufgespielt und binnen 15 Minuten zwei Tore erzwungen. In der 70. Minute markiert der Halbrechte Duisburgs dann den Siegtreffer. Spielführer der Berliner war wohl Verteidiger Arthur Atze Mohns, später fünffacher Nationalspieler.
Die gute Leistung gegen den Berliner Vizemeister können die Meidericher bald bestätigen: Pfingsten kommt Norden-Nordwest zur Revanche nach Duisburg (und Essen sowie Bonn), so die Berliner Neuesten Nachrichten. In Meiderich heißt es am Sonntag, dem 08.06.1919 wiederum 3:1 für die Gastgeber, die am Folgetag noch Werder Bremen 1:2 unterliegen. Beide Treffen hat man im DGA samt Eintrittspreisen beworben – für Erwachsene 1,50 Mark, Schüler eine Mark und Kinder 50 Pfennige. Als die Zebras 1922 dann als souveräner Kreismeister in die Erstklassigkeit zurückkehren, folgen aus ganz Deutschland Einladungen (und aus Amsterdam, wo es 2:2 bei Ajax heißt).
Zurück an die Spree kehren die Zebras im Mai 1922 für die Jubiläumsspiele zum 30jährigen Bestehen des BFC Hertha 1892 und des Berliner SV 1892, wie die Volks-Zeitung (BVZ) schreibt. Die Kapitale ist 1920 durch umfangreiche Eingemeindungen indes zur Boomtown „Groß-Berlin“ mit verdoppelter Einwohnerzahl von 3,8 Millionen geworden. Die „Goldenen Zwanziger“ werden sie zum kulturellen Mittelpunkt nicht nur Deutschlands machen: Kosmopolitisch und avantgardistisch und noch schneller als jemals zuvor – und zugleich doch voller Armut, Enge und gesellschaftlicher Stagnation, so Stöver. In den frühen 1920ern ist das Leben derweil ebenso wie im Westen noch stark von Kriegsfolgen, schweren wirtschaftlichen Problemen und politischer Unruhe geprägt.
Entstanden als Britannia, ist der in Schmargendorf in Berlins Südwesten ansässige BSV vierfach Meister früher regionaler Verbände gewesen, hat 1900 den DFB mitbegründet und vier Jahre später dessen (entfallenes) Meisterschaftsfinale erreicht. In der Hauptstadt bleibt er zuletzt und auch 1922 aber Mittelmaß. Hertha (nach einem Flussdampfer) ist ebenso DFB-Gründer sowie Berliner Meister von 1915, 1917 und 1918, doch 1919 wegen offiziell verbotener Zahlungen an Spieler disqualifiziert worden. Seither spielt man schwach und schwebt 1922 gar in Abstiegsgefahr. Auch finanziell steht es schlecht, 1923 wird der BFC seine Spielstätte verlieren – darauf jedoch zum späteren Spitzenclub und zweifachen deutschen Champion der 1930er fusionieren: Hertha BSC.
Ihr Jubiläum feiern die beiden Pioniere laut Berliner Volks-Zeitung nun durch eine großzügige Veranstaltung über zwei Tage. Eingeladen sind zwei so gute Mannschaften wie Eintracht-Frankfurt und Spielverein von 1880 Duisburg-Meiderich, also beste süddeutsche und westdeutsche Klasse. Über die Zebras heißt es empfehlend, dass sie gegen die stärksten Wiener und holländischen Vereinen auf das ehrenvollste abgeschnitten haben (dazu dürfte kommen, dass NNW in Berlin 1922 auf Meisterkurs liegt). Ausgeglichenheit mache sie zu einem schwer zu schlagenden Team. Tatsächlich spielt man bei BSV und Hertha dann 2:4 und 1:1, die Eintracht 1:2 sowie 3:1.
Das Hauptstadtblatt Deutsche Allgemeine Zeitung (DAZ) sieht die Zebras am Samstag, dem 07.05.1922 beim Berliner Sportverein 1892 äußerst positiv: Einem Jugendspiel folgt um 17 Uhr der Anpfiff auf dem mit einer Tribüne für 400 Personen bestückten B.S.V.-Platz am Ringhalt Schmargendorf (heute Hohenzollerndamm). Der Spielverein 1880 Meiderich startet stark, bedrängt als sportlich gut durchgebildete Elf die sich schlecht zusammenfindenden Berliner durch schnelles, faires, an technischen Feinheiten reiches Kombinationsspiel und führt zur Pause 1:0. Die zweite Hälfte sieht ihn aber schwächer, indes die Hausherren mächtiger Schwung erfasst und gute Arbeit ihres linken Stürmerflügels ihnen vier Tore bringt. Gegen die starke Läuferreihe machen die Zebras nur noch ein Tor, verloren nach fairem, ebenbürtigem Kampf allerdings unverdient hoch.
Zur Begegnung mit dem BFC Hertha 92 am Sonntag, dem 08.05.1922 um 16 Uhr auf dem Gesundbrunnen-Sportplatz ist leider nichts Näheres bekannt, das Vorspiel machen aber die Alten Herren von Hertha und B.S.V. II. Die „Alte Dame“ spielt 1922 noch auf dem vom Gastwirt Schebera verpachteten Platz am Bahnhof Gesundbrunnen im gleichnamigen heutigen Ortsteil, dem östlichen Wedding. Hier ist man laut „125 Jahre Hertha BSC“ Anlaufstelle für Fußballfans im vom Proletariat geprägten Kiez geworden, die immer besser besuchte Anlage hat eine einzigartige Aura. Die westliche Längsseite verfügt über eine überdachte Holztribüne von 80 Metern mit sieben Sitzreihen, die übrigen Seiten Stehtraversen. Ein um 1916 datiertes Bild dieses möglicherweise ältesten bestehenden deutschen Fußballplatzes, den NNW bis heute nutzt, ist hier abrufbar.
Da schon das vorherige 2:4 solches Lob erfährt, dürfte das 1:1 erst Recht einen positiven Eindruck machen, und so kommt zu Pfingsten schließlich die heute viertklassige und in Charlottenburg ansässige Tennis Borussia (in den 1970ern auch als Bundesligist unser Gegner) nach Meiderich. Die 1902 gebildeten „Veilchen“ spielen in Berlins Topliga, sind aber noch wenig erfolgreich und steigen 1922 ab. Die Mitglieder entstammen primär dem mittleren und gehobenen Mittelstand, so eine Vereinschronik. In einem sehr fairen Spiel wird „Tebe“ am 05.06.1922 jedenfalls mit 6:1 überrollt: Bis zur Pause trifft Kremer laut DGA dreifach, in der zweiten Hälfte bringen 20 Minuten Drang den Gästen das Ehrentor, dann treffen noch Haferkamp, Kremer und Kaspers.
Dem Journalisten schien eine solche hohe Niederlage zwar nicht verdient, doch habe Meiderich von der Unsicherheit der Gästeverteidigung profitiert. Die DAZ währenddessen schreibt knapp von einer 6:1-Packung – was ebenso wie die Einladung zu den Jubiläen und das Gastspiel von „Tebe“ 1922 an sich zeigt: Die Leistungen der Zebras wurden in der deutschen Hauptstadt damals sehr wohl wahrgenommen, auch wenn sie für den dortigen Fußball oder gar die breite Öffentlichkeit natürlich wenig Bedeutung hatten. Dass Berlins Fußballbegeisterte Kenntnis von ihrer Klasse erlangten, haben die Blau-Weißen vor gut 100 Jahren aber bereits erreicht.
Quellen
- Der Sport zu Ostern, in: Berliner Neueste Nachrichten (BNN), 19.04.1919, Nr. 179 (Abend-Ausg.), S. 3f.
- Der Sport der Ostertage, in: Berliner Volks-Zeitung (BVZ), 20.04.1919, Nr. 177 (Morgen-Ausg.), Erstes Beiblatt, S. 2.
- Die Oster-Spiele, in: Berliner Morgenpost (BMP), 20.04.1919, Nr. 110, S. 3.
- Die Oster-Fußballspiele, in: BMP, 22.04.1919, Nr, 111, S. 3.
- Der Meidericher Spielverein in Berlin, in: Duisburger General-Anzeiger (DGA), 26.04.1919, Nr. 115, S. 3.
- Pfingstfahrten Berliner Fußballer, in: BNN, 06.06.1919, Nr. 263 (Abend-Ausg.), S. 4.
- Sportplatzanlage Duisburg-Meiderich, Dennewitzstraße. Fussball-Wettspiele, in: DGA, 07.06.1919, Nr. 157, S. 8.
- Fußball, in: DGA, 11.06.1919, Nr. 160, S. 3.
- Berliner Jubiläumsfußballspiele, in: BVZ, 06.05.1922, Nr. 211 (Morgen-Ausg.), Erstes Beiblatt, S. 2.
- Der Meidericher T. u. Sp V. 1880 in Berlin, in: DGA, 08.05.1922, Nr. 126, S. 5.
- Jubiläumsspiele des B.S.V. 92 und Hertha 92, in: DAZ, 09.05.1922, Nr. 213 (Morgen-Ausg.), S. 5.
- Berliner Fußballspiele, in: DAZ, 06.06.1922, Nr. 258 (Abend-Ausg.), S. 3.
- Meidericher Spielverein : Tennis Borussia Berlin 6:1 (3:0), in: DGA, 07.06.1922, Nr. 155, S. 5.
- 50 Jahre Meidericher Spielverein. 1902–1952. Jubiläumsfestschrift. Duisburg 1952.
- 100 Jahre BSV 92: Berliner Sport-Verein 1892 e. V. Berlin [1992].
- 100 Jahre Tennis Borussia Berlin: Eine Chronik. 1902-2002. Berlin 2002.
- Eggers, Erik: Fußball in der Weimarer Republik. 2. Aufl. Kellinghusen 2018.
- Grüne, Hardy/Hahn, Michael: 125 Jahre Hertha BSC. Das Jubiläumsbuch. Göttingen 2017.
- NNW: 1898-1958. Festschrift zum 60jährigen Bestehen. Berlin 1958.
- Stöver, Bernd: Geschichte Berlins. 2. Aufl. München 2021.
- Werner, Henry: Fußball in Berlin. Spieler – Vereine – Emotionen: 1880 bis heute. Berlin 2016. Wolter, Christian: Streifzug über die Berliner Plätze des Arbeitersports, in: Arbeiterfussball.de, o. D., www.arbeiterfussball.de/historisches/stadien-plätze/berlin (darin: Spiel zwischen Hertha und BFC Preussen um 1916, www.arbeiterfussball.de/s/cc_images/cache_9990822.jpg?t=1606765774).
Stand: 16.04.2022
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