Erstligaduelle vor über 90 Jahren:
Duisburg 88 gegen den MSV (August 1929)
von Martin Blasius
TuRa 88 gegen den MSV – hat das Tradition? Der heutige Gegner unserer Amateure sicher: 1888 als „Neudorfer Turnverein“ gegründet, betrieb man seit 1909 Fußball, vereinigte sich 1920 mit dem „Verein für Rasenspiele 07“ zum „Turn- und Rasenspielverein 88“ und sollte bis 1933 noch zwei weitere Fusionen sehen. Den sportlichen Höhepunkt erlebte der inzwischen meist „Duisburg 88“ genannte Club, als er ab 1930 in der Sonderklasse, dem damaligen Oberhaus spielte – wo er 1931/32 auch der ersten Garde der Zebras begegnete, gegen welche es zwischen 1929 und 1936 außerdem einige Spiele im Pokal sowie der zweiten Klasse gab. Erstmals auf den MSV, der als Niederrheinmeister, Vizechampion im Westen und Teilnehmer der Endrunde um die Deutsche Meisterschaft zuletzt seine bisher stärkste Saison erlebt hatte, traf der seit 1919 an der Lotharstraße (erst „Waldecke“, bald „Walddreieck, Ecke Lothar- und Kammerstraße“) heimische und ab 1926 zweitklassige TuRa im August 1929 – im Finale des „Pokals des Duisburger Rasensportverbandes“. An der „Westender“ war der Spielverein vor rund 1000 Besuchern „weit – weit überlegen“ und siegte 11:2, obwohl „88“ gemäß Duisburger General-Anzeiger (DGA) stritt „so gut es ging“. Mit fünf Toren „Held des Tages“ war Rechtsaußen Spiering. 1930 stiegen die Neudorfer dann in die Sonderklasse auf und fusionierten mit „Viktoria Kellermann“ zur „Turn- und Spielvereinigung 88“, die gemäß Rhein- und Ruhrzeitung (RRZ) „etwa 400 Mitglieder“ sowie jeweils sieben Herren- und Jugendteams zählte.
1931/32 trafen die meist weiter so genannten „Turaner“ in Gruppe A der Sonderklasse nun auf die Zebras. Diese – im Vorjahr wieder Meister am Niederrhein und westdeutscher Dritter – hatten vor dem Treffen im September 1931 ihre ersten drei Ligaspiele gewonnen, „88“ indes noch keinen Punkt geholt. Vor 1.500 Zuschauern siegten die blau-weißen Gastgeber laut DGA „verdient“ 4:1, doch ernteten auch Kritik: Zunächst dominant, ging man gleich in der 1. Minute in Front, bis zur Pause folgten noch drei Treffer, Keeper Kosminski hielt einen Elfmeter. Nach der Pause war das Team aber „nicht wiederzuerkennen“ und Neudorf kam „durch sein kämpferisches Einsetzen“ zum Ehrentor. Die Rhein- und Ruhrzeitung lobte Meiderichs „ausgezeichneten Kombinationsfußball“, schalt aber ebenso die „taktisch falsche Spielweise“ im zweiten Abschnitt – und sah im Kopfballtreffer der Gäste zum 4:1 das „schönstes Tor des Tages“.
Das Rückspiel stieg bereits im November, als zweitplatzierte Zebras zu Schlusslicht „88“ reisten. Überraschend endete der laut RRZ „erbitterte Kampf“ vor 2.500 bis 3.000 Zusehern für sie „glücklich“ 1:1, da die Duisburger „wohl ihr bestes Spiel der Saison“ machten und in der zweiten Hälfte verdient zur Führung kamen. Nach einer Stunde schied Meiderichs Torhüter aus, ein Feldspieler sprang ein. Erst „eine halbe Minute vor Schluß“ fiel per Freistoß das 1:1. „Was sich nach dem Spiel ereignete, darüber möge die Instanz urteilen“, schrieb die RRZ noch, blieb aber unkonkret. „Favoritenschreck“ Neudorf (DGA) schöpfte aus dem „gerechten“ Remis jedenfalls Hoffnung, doch stieg letztlich ab, wobei laut Festschrift von 1978 die vorherige, „ungünstig“ wirkende Fusion mitentschied. Der MSV derweil erreichte seine dritte Niederrheinmeisterschaft in vier Jahren, das westdeutsche Halbfinale und wieder die deutsche Endrunde.
Als man sich 1934 wieder traf, war der deutsche Fußball inzwischen fundamental umgestaltet worden: Die im Vorjahr an die Macht gelangten Nationalsozialisten erkannten mit den Worten des Buches „Im Revier der Zebras“ früh „die politische Funktion“, welche der „zahlreiche Ansatzpunkte zur ideologischen Vereinnahmung“ bietende Fußball ob seiner „Massenwirkung“ haben konnte. So wurde auch er „gleichgeschaltet“, also am Führerprinzip ausgerichtet und Juden sowie politische Gegner hinausgedrängt. „Dem Prinzip Leistungssteigerung durch Konzentration“ (so Historiker Dietrich Schulze-Marmeling) folgend entstanden Gauligen als neues Oberhaus und das Regime versuchte, „durch Zwangsfusionen leistungsstarke Großvereine zu schaffen“, wie wieder „Im Revier der Zebras“ formuliert. Während der Betriebssport starke Förderung erfuhr, sahen manche „bürgerliche“ Traditionsclubs somit eher schwere Zeiten.
Der MSV war einer dieser Clubs – auch wenn noch unklar ist, in wie weit sein Dasein als mittelmäßiger Zweitligist unter dem NS-Regime dessen „direkter Einflussnahme“ geschuldet war: 1933 für die Gauliga „nicht berücksichtigt“, verloren die Zebras jedenfalls laufend Spieler und Zuschauer, sodass man sportlich wie finanziell „ausblutete“. Für TuRa war 1933 ein noch größeres „Unglücksjahr“: Der Vorsitzende Böker sowie Jugendobmann Kraft wurden aus politischem Grund abgelöst und der Nachwuchs in die Hitlerjugend überführt. Endgültig „die Existenzmöglichkeit“ verlor man, als an Stelle der Sportanlage „Kleingärten der Parteiherren“ entstanden. Nun wurde „Tura 88 und Hertha Duisburg aufgegeben, sich mit sofortiger Wirkung zu vereinigen“, so der DGA. Das Produkt der Zwangsehe, der (kaum so bezeichnete) „Neudorfer Turn- und Ballspielverein von 1888“, bezog Herthas Platz an der Neudorfer Straße.
Den Zebras begegnete „88“ erst 1934/35 nach den Wiederaufstieg in die Bezirksklasse wieder: Vor „einer ansehnlichen Zuschauermenge“ in Neudorf sah der General-Anzeiger im Oktober 1934 ein „sehr schönes“, die RRZ ein „kampfbetontes, zuweilen sehr hartes Treffen“, das der Hausherr 3:2 gewann. Der DGA schrieb, dass Neudorf nach 15 Minuten und der MSV nach fast einer Stunde per (in der Wiederholung) verwandeltem Elfmeter traf. Rasch fiel im „Alleingang“ das 2:1 für „88“, doch wieder egalisierte Meiderich. Entschieden wurde die Partie letztlich durch ein Kopfballtor, Zebra-Angreifer Kreyenberg – „rednerisch etwas zuviel betätigt“ – wurde noch des Feldes verwiesen. Die Rhein- und Ruhrzeitung (die den Ablauf teils abweichend darstellte) urteilte, der Gastgeber feiere einen „etwas glücklichen, aber nicht unverdienten Sieg“, wobei gegen „technisch bessere“ Zebras sein „Eifer“ entschieden habe.
Im Februar 1935 konnte sich Meiderich gegen Gäste, die mit hohem, allerdings teilweise übertriebenem „Kampfeifer“ auftraten, jedoch „glänzend revanchieren“. Kurz vor der Halbzeit traf Krämer „per Nachschuß“, bald nach dem Seitenwechsel fiel das 2:0. „Unverhofft“ gelang den Neudorfern durch einen Kopfball der Anschluss, bevor Meiderichs Treffer zum 3:1 in der 83. Minute Klarheit schuf. Der General-Anzeiger sah einen verdienten Sieg „der spielerisch besseren Elf“, kritisierte aber die von beiden Seiten gezeigte „Unfairneß“, tadelte den offenbar sehr laschen Schiedsrichter und erwähnte, die „nur etwa 800 Zuschauer“ hätten „ihr Mißfallen überaus laut kund“ getan, ja sogar den Schlusspfiff regelrecht „herbeigesehnt“. Am Saisonende wurden die Zebras dann Vierte der Staffel, Duisburg 88 holte den neunten Platz.
1935/36 taten sich mittelmäßig platzierte Meidericher Gastgeber im November 1935 gegen den Drittletzten laut General-Anzeiger „schwer, sehr schwer“, siegten jedoch „knapp, aber verdient“ 2:1. „Aber befriedigen konnten die Leistungen doch nicht“ – beiderseits. „Vor einigen hundert Zuschauern“ bestritt der MSV wegen einer Verspätung des Mittelstürmers die ersten zehn Minuten „nur mit zehn Leuten“, nach einer halben Stunde machte Meiderichs Halblinker jedoch das 1:0. Die Gäste kamen zehn Minuten darauf aus kurzer Distanz zum Ausgleich, nach der Pause begann allerdings ihre offenbar bereits „bekannte schwache Viertelstunde“, in der aus „einem Gedränge“ das Siegtor für den Hausherren fiel. Zwar war „88“ nun „wieder wach“ und sah sich in der laut RRZ „zeitweise überharten“ Schlussphase einem Handelfmeter nah, doch gab der Referee wegen einer Abseitsstellung letztlich Freistoß für die Zebras.
Im April 1936 galt es für Neudorf daheim schließlich, „sich noch in letzter Minute vor dem Abstieg zu retten“, so der DGA, der „das urwüchsige und energische Fußballspiel“ der Gastgeber lobte, „die einfach alles auf eine Karte setzten“, während der im Niemandsland liegende MSV „elanlos“ sowie „selten“ schwach wirkte – und laut Rhein- und Ruhrzeitung „voll und ganz“ verdient“ 1:4 unterlag. „Der alte Neudorfer Kampfgeist“ war dagegen lebendig, das Team spielte „ungekünstelt, forsch“ und mit „guten Kombinationen“. Früh ging man „nach einem schnellen Alleingang“ des Halbrechten in Führung und machte in der 25., 44. und 50. Minute weitere Tore, etwa eine Viertelstunde vor Schluss markierte Meiderichs Mittelstürmer den Ehrentreffer. Doch auch dieser „Hoffnungsblick“, der „88“ wieder nah an das rettende Ufer rückte, half am Ende nicht: Im Sommer ging es als Vorletzter erneut in die Drittklassigkeit.
Hier mögen auch „Behinderungen“ durch das Regime gewirkt haben, die spätere Festschriften erwähnen. Sicher tat es der ebenfalls massive Aderlass an Spielern. 1938 konnte man das 50. Jubiläum dennoch mit einem dreitägigen Programm begehen – und die RRZ hoffte, „daß der neue Geist und der Aufstieg des Vaterlandes auch wieder dem Verein neue Kräfte zuführen möge“, damit er „Jugend und Mitglieder im Sinne unseres Führers Adolf Hitler zu echten wehrhaften deutschen Männern heranbilden“ könne. Hier zeigt sich, dass selbst eher benachteiligte Vereine wie TuRa und der MSV Teil des für Diktatur und Krieg instrumentalisierten Sportes waren – obschon Einordnungen des Verhaltens individueller Mitglieder künftigen und tiefer gehenden Forschungen vorbehalten bleiben müssen und sollen.
Nach Kriegsende begann man in Neudorf jedenfalls als „Turn- und Rasensportverein 88 e.V. Duisburg“ den Wiederaufbau, die sportlich besten Zeiten sah der Club seither zwischen 1957 bis 1965 in der viertklassigen Landesliga. Der Weg unseres Spielvereins aus Meiderich derweil bedarf wohl keiner Erläuterung, und so traf man nur noch sporadisch aufeinander: 1949 gewannen die Zebras ein Freundschaftsspiel 5:1, beim Duisburger Hallenpokal 1993 hieß es 4:4, zuletzt besiegte der MSV 2004 eine Kombination aus TuRa und Duisburg 1900 mit 9:1. Die Ligabegegnungen der 1930er Jahre blieben so Episoden – doch lässt sich anhand der Partien eben Einiges nicht nur über die Historie beider Traditionsvereine, sondern auch den Fußball im Nationalsozialismus sowie das Wechselspiel von Diktatur und Sport allgemein lernen.
Alle Begegnungen gegen die erste Mannschaft der Zebras im Überblick:
11.08.1929 Meidericher SpV Duisburg 88 11:2 (8:0) RSV-Pokal
13.09.1931 Meidericher SV TuRa 88 Duisburg 4:1 (4:0) Sonderklasse (I)
22.11.1931 TuRa 88 Duisburg Meidericher SpV 1:1 (0:0) Sonderklasse (I)
21.10.1934 TuRa 88 Duisburg Meidericher SpV 3:2 (1:0) Bezirksklasse (II)
17.02.1935 Meidericher SpV TuRa 88 Duisburg 3:1 (1:0) Bezirksklasse (II)
03.11.1935 Meidericher SpV TuRa 88 Duisburg 2:1 (1:1) Bezirksklasse (II)
19.04.1936 TuRa 88 Duisburg Meidericher SpV 4:1 (3:0) Bezirksklasse (II)
14.05.1949 TuRa 88 Duisburg Meidericher SpV 1:5 (0:3) Freundschaftsspiel
03.01.1993 TuRa 88 Duisburg MSV Duisburg 4:4 (2:1) Hallen-Stadtpokal
07.07.2004 TuRa 88/DSV 1900 MSV Duisburg 1:9 (0:4) Freundschaftsspiel
Quellen
Archiv des MSV Museum e. V., Duisburg // Lokales, in: RRZ, 09.11.1888, Nr. 264, S. 2; Turn- und Rasenspiel-Verein D.-Neudorf 1888 E. V., Ebd, 02.06.1920, Nr. 244, S. 4; Jubiläum in Neudorf, in: DGA, 11.08.1928, Nr. 373, S. 6; sor.: Um den Pokal des Rasensportverbandes, Ebd., 12.08.1929, Nr. 374, S. 6f.; Sgfr.: Um den Krupp-Pokal, in: RRZ, 12.08.1929, Nr. 373, S. 6; Duisburg 88 ist Meister, Ebd., 05.05.1930, Nr. 208, S. 6; Zusammenschluß, in: DGA, 18.08.1930, Nr. 384, S. 3; Spielvereinigung Duisburg 88 e. V., in: RRZ, 25.08.1930, Nr. 397, S. 4; T.: Meidericher Sp.V. : Duisburg 88 4:1 (4:0), Ebd., 14.09.1931, Nr. 430, S. 6; Köllner, E.: Ein nicht befriedigendes Punktetreffen…, in: DGA, 14.09.1931, Nr. 255, S. 7; klamm.: in: Duisburg 88 der Favoritenschreck, Ebd., 23.11.1931, Nr. 325, S. 5; Hg.: Duisburg 88 : Meidericher Spv. 1:1 (0:0), in: RRZ, 23.11.1931, Nr. 548, S. 6; Die Kreisklassen greifen ein, in: DGA, S. 15.09.1933, Nr. 254, S. 10; Veränderungen in der Kreisklasse, Ebd., 16.09.1933, Nr. 255, S. 10; Neudorfer Turn- und Ballspielverein 1888, in: RRZ, 19.09.1933, Nr. 436, S. 5; Vereinszusammenschluß in Neudorf, in: DGA, 20.09.1933, Nr. 259, S. 4; lü: Kampfkräftige Neudorfer, Ebd., 22.10.1934, Nr. 291, S. 6; Fa.: Duisburg 88 – Meidericher SpV 3:2 (1:0), in: RRZ, 22.10.1934, Nr. 291, S. 7; Aso.: SpV. Meiderich – Duisburg 88 3:1 (1:0), Ebd., 18.02.1935, Nr. 49, S. 5; pe.: Mit unnötiger Härte, in: DGA, 18.02.1935, Nr. 49, S. 7; lü.: Knapp, aber verdient, Ebd., 04.11.1935, Nr. 302, S. 6; Eeeff: Meidericher SpV – Duisburg 88 2:1 (1:1). in: RRZ, 04.11.1935, Nr. 305, S. 6; Wiederum ein Sieg von Duisburg 88, Ebd., 20.04.1936, Nr. 109, S. 6; ru.: Ein Hoffnungsblick für 88?, in: DGA, 20.04.1936, Nr. 109, S. 6; Goldenes Jubiläum bei Duisburg 88, in: RRZ, 26.08.1938, Nr. 232, S. 5 // Kurmark Cigaretten. Sport-Wappen I. Fussball. Berlin: Garbáty 1930 // Turn- und Rasenspielverein 1888 Duisburg. Festschrift für das 40. Stiftungsfest am 11., 12. u. 13. Aug. 1928 [Duisburg 1928] (Stadtarchiv Duisburg, S1630); 90 Jahre Turn- und Rasensportverein 88 e. V. Duisburg. Festschrift aus Anlaß des 90-jährigen Vereinsbestehen [Duisburg 1978] (S1812); Turn- und Rasensportverein Duisburg 1888 e.V. Festschrift aus Anlaß des 100jährigen Vereinsbestehens [Duisburg 1988] (S2568); Historie, in: TuRa88.de, o. D., www.tura88.de/historie // Schulze-Marmeling, Dietrich: Ein Volk, ein Ball, ein Führer? Fußball unterm Hakenkreuz, in: Hartmut Hering (Hrsg.) Im Land der tausend Derbys. Die Fußballgeschichte des Ruhrgebiets. 2. Dr. Göttingen 2003, S. 177–206; Dembowski, Gerd u. a.: Im Revier der Zebras. Die Geschichte des MSV Duisburg. Göttingen 2001.
Stand: 05.04.2024
Autor: Martin Blasius
MSV Museum e.V.
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