Im Schatten der „Rotblusen“:
Das Entscheidungsspiel zwischen
Duisburg 08 und MSV im Februar 1927
von Martin Blasius
Zwei Jahre nach Vollendung ihres ersten Vierteljahrhunderts setzten die Zebras 1929 Meilensteine: Erstmals Bezirksmeister vor der mächtigen lokalen Konkurrenz, wurden sie bei ihrem Endrunden-Debüt gleich westdeutsche Vizechampions und starteten so auch bei der Deutschen Meisterschaft. In den Jahren zuvor hatte man derweil noch um den zweiten Rang in der eigenen Stadt hinter den „Rotblusen“, den Platzhirschen vom großen Duisburger Spielverein gestritten – so 1927 gegen Duisburg 08, als es um den Gruppensieg in der Bezirksliga, damit den Einzug in die Schlusskämpfe im Westen (zumindest die Runde der Zweiten) sowie die Chance ging, gegen den DSV den Titel im Bezirk und die Meisterrunde zu erreichen.
Damals ist die Weimarer Republik politisch und wirtschaftlich relativ stabilisiert, während der Fußball immer noch populärer wird. Regional ein Pionier, mit bis 1925 zehn Titeln Rekordmeister Westdeutschlands und 1913 deutscher Vizechampion, hat der „bürgerliche“ Spielverein vom Grunewald seine Stadt zur ersten Fußball-Hochburg des Ruhrgebiets (so die Historiker Piesczek und Schulze-Marmeling) gemacht. Sieben Westmeisterschaften vor dem Ersten Weltkrieg sind 1921, 1924 und 1925 bisher „nur“ drei gefolgt, doch bildet man weiter eine echte Topadresse – und in Duisburg (noch ohne Hamborn, Walsum, Süden und linke Rheinseite) sowie dem umliegenden Bezirk Niederrhein eine fast absolute Übermacht.
Nummer 2 vor Ort ist anfangs der „akademische“ DSC Preußen gewesen, der 1909 auch einmal die Meisterschaft im Bezirk Ruhr gewonnen hat. Nach dem Ersten Weltkrieg haben ihn dann die Grün-Weißen vom „proletarischen“ Duisburger FV 08 aus dem stark von der Stahlindustrie geprägten Hochfeld abgelöst, die 1922 Gaumeister von Berg-Mark geworden sind. Im neuen Gau, später Bezirk Niederrhein hat ab 1923 jedoch der Duisburger Spielverein erneut eine Titelserie begonnen. Den DFV 08 wiederum „jagen“ zu dieser Zeit der VfvB Ruhrort, die Zebras sowie deren Lokalrivale Meiderich 06, die 1924/26 (seit 1922 dauert die Saison am Niederrhein jeweils zwei Jahre) die Plätze 3 bis 5 belegen.
1926/27 läuft die 1. Bezirksklasse aber wieder einjährig und in zwei Staffeln. Laut Duisburger General-Anzeiger (DGA) ist der MSV „08“ im Kampf um Platz 1 der Gruppe B stets dicht auf den Fersen, obwohl das erste Treffen 2:5 endet. Vor ihrer letzten Partie – der zweiten gegen die Hochfelder – liegen die Zebras im Januar 1927 zwei Punkte, aber auch ein Spiel vorn. Am 23.01. siegt der DFV in Meiderich 3:1, daheim gegen den Homberger Spielverein reicht nun ein Remis. Am 30.01. verliert man jedoch 3:6. Da so weiter Punktgleichheit herrscht und das Torverhältnis nicht zählt, folgt am Sonntag, dem 06.02. im Wedaustadion ein Entscheidungsspiel. Der Sieger wird auf den DSV als Primus der Gruppe A treffen.
Laut Rhein- und Ruhrzeitung (RRZ) hat der MSV die größten Aussichten. Der DGA sieht die 08er voller Nervosität, doch traut ihnen viel zu. Eitel Freude sei in Meiderich, man meine, bisher nur unter einem ungünstigen Stern gespielt zu haben. Da die Teams in etwa die gleiche Spielstärke besäßen, sei der Sieg Sache der besseren Nerven. Am 06.02. zählt man trotz Schneewolken dann zehn- bis zwölftausend Zuschauer (die RRZ weit über 10 000 samt Oberbürgermeister), die zu Fuß anreisen oder Autobusse und Privatfahrzeuge nutzen. Die Atmosphäre im Stadion erinnert etwas an die Zeit der COVID-Pandemie: Es herrscht ohrenbetäubender Lärm aus Blasinstrumenten und Autohupen. Lauter sind klar die Hochfelder Fans.
Die Elf des MSV ergibt sich aus der Presse und den gängigen Chroniken: Das Tor hütet Kosminski (oder Koßminski), seit man Schweer (wie Rechtsaußen Rütter) durch Unglücksfälle verloren hat. Die Abwehr bilden Schwenzfeier und der sonst auch halbrechts stürmende Peters. Im zentralen Mittelfeld fehlt Laschuit, ihn ersetzt wohl Weiße, links und rechts streiten wie gewohnt Spielführer Eberhard Graffmann 1 und Gerding. Im Angriff stehen Versteeg 1 und 2 (einer Cornelius, einer H.) halblinks sowie links außen, in der Mitte Walter Krämer (oder Kremer), rechts außen Walter Spiering und halbrechts Eberhards Bruder Heinrich Graffmann 2, Rechtsverteidiger, der beim 1:3 vor zwei Wochen erfolgreich in den Sturm gerückt ist.
Der Anpfiff erfolgt um 15 Uhr. Nach laut DGA verteiltem Spielbeginn mit frühen Chancen für „08“, aber auch ersten Gelegenheiten für den MSV verpasst Schwenzfeier in der 14. Minute eine Vorlage an Hochfelds Halbrechten Thal, der zum frühen 1:0 trifft. Nur Momente später prallt Versteeg 1 (laut RRZ Gerding) mit dem Torschützen zusammen, wird schwer verletzt und muß vom Platz getragen werden. So verbleiben für ganze 75 Minuten nur zehn Zebras, doch schon in der 17. Minute folgt ihr Gegenschlag: Von Graffmann 2 geht der Ball über Krämer an Spiering. DFV-Keeper Grabowski verlässt unnötig das Tor und Spiering hat die Situation richtig erfaßt: er schießt flach zum Ausgleich ein.
Nach einem Gegenlauf Hochfelds kommt Krämer auf der Torraumlinie ans Leder, doch scheitert sein guter Drehschuß. Insgesamt überwiegt aber „08“, die Lücke beim MSV klafft. Bald gelangt ein Freistoß an Thal, der über den herausgelaufenen Kosminski das 2:1 köpft. Die RRZ indes schildert: Ein hoher Flankenball prallte von des Verteidigers Peters Rücken ins Tor. Wenig später tritt Meiderichs Keeper nach einem Angriff nach Schmidt, was der Schiedsrichter aber nicht sieht. Für ein Foul an Weiße wird Thal verwarnt. Die nächste Chance des DFV endet durch einen pflaumenweichen Schuß in Kosminskis Händen, eine weitere klärt er per Fuß. Bevor es in die Halbzeit geht, wird Krämer gerade noch auf der Torlinie gestoppt.
Nach der Pause macht dieser besorgniserregende Vorstöße, bald tauschen Grafmann 1 und der ausgepumpte Weiße die Position. Kurz darauf herrscht erneut tolles Gedränge vor Meiderichs Tor, doch zählt der folgende Treffer nicht. Dann spielt Peters vor dem Strafraum Hand, was per Freistoß zum 3:1 führt, nur pfeift der Referee abseits. Die Hochfelder sind nun drückend überlegen, aber der MSV macht sich frei: Graffmann 2 ging aus dem Sturm zurück und Peters betätigte sich dafür mehr im Felde, worauf er nach Zusammenspiel mit Krämer das 2:2 erzielt. Laut DGA nimmt der Schütze derweil eine Vorlage Spierings auf, behält im Kampfe mit Müller die Oberhand und schießt für Grabowski unhaltbar in die obere rechte Ecke.
Vielfach rechnete man mit einer Verlängerung, so die Rhein- und Ruhrzeitung, aber dann foult Graffmann 1 laut DGA Kirchhoff, der Freistoß gelangt weit außen an Thal, der den Ball hoch auf Meiderichs Tor gibt. Kosminski läuft aus dem Tor, doch die Kugel entspringt ihm und DFV-Linksaußen Kirchhoff schiebt zum 3:2 ein. Dabei bleibt es, obwohl beiderseits noch Gelegenheiten folgen. So gewinnt „08“ die Gruppe B und trifft in zwei Entscheidungsspielen im Wedaustadion auf den Duisburger SV, der am 06.02. übrigens fünf Akteure beim 3:4 Westdeutschlands gegen Norddeutschland in Hamburg stellt.
Die Ermittlung seines Gegners löst sportlich wenig Begeisterung aus: Im General-Anzeiger liest man von einem harten Kampf – von Einzelnen nicht immer ritterlich ausgefochten. Auch habe es ab und zu einen toten Punkt gegeben, doch insgesamt war man mit dem Gebotenen zufrieden. Die RRZ indes ist nicht sonderlich begeistert. Im zweiten Teil herrscht zwar viel Spannung vor Meiderichs Gehäuse, spielerisch ist aber wenig zu sehen: Der DGA beschreibt Gedränge, in denen man blindlings über den Haufen rannte. So äußert das Publikum laut Rhein- und Ruhrzeitung teilweise brausende Heiterkeit (auch als Kosminski kurz vor Schluss einen Froschtanz aufführt). Das 2:2 sei der einzige schöne Treffer gewesen.
Bezüglich des Schiedsrichters herrscht Unklarheit: Der General-Anzeiger schreibt von einem Müschenig, der nur etwas zu lasch gepfiffen habe, die RRZ einem Jansen aus Neuss, der nicht der rechte Mann gewesen sei. Manch grobe Ueberschreitung hätte er vermeiden können, und vielleicht sei endlich noch der Sieg der Duisburger sehr in Frage gestellt gewesen, denn Versteegs Verletzung habe stark gewirkt. Zugleich heißt es aber, allein die Unsicherheit in der Sturmlinie des Siegers habe einen höheren Ausgang verhindert. Auch der DGA nennt das Ergebnis verdient: „08“ sei frisch und ungekünstelt aufgetreten, derweil es bei Meiderich wenig System im gesamten Spielaufbau und eine Unzahl technischer Fehler gegeben habe.
Die Hauptkritik trifft Torwart Kosminski, vor allem im General-Anzeiger: Fast alle seiner Aktionen kann man nicht billigen. Die Defensive hatte einen schweren Stand und etwas Glück, im Mittelfeld versagte Weiße völlig, Eberhard Graffmann ging noch an, Gerding wirkte meist wie groggy. Vorn hätte Heinrich Graffmann 2 eher mit Peters tauschen sollen, wollte er nach dem Ausscheiden von Versteeg 1 doch nicht einsehen, daß er dann vorne sein mußte. So erhielt der sehr engagierte Krämer im quasi nur noch dreiköpfigen Sturm lang nicht die geringste Unterstützung. Hart beurteilt wird auch Versteeg 2, der über seine eigenen Füße stolperte. Lob erfahren dagegen die Hochfelder, die ein Erkleckliches mehr vom Spiel hatten.
Um den Meistertitel geht es für „08“ zum ersten Mal am 13.02., doch siegt der Duisburger Spielverein überlegen 4:1, im Rückspiel dann 3:1. Er erreicht so souverän die Endrunde der westdeutschen Bezirksmeister, die mit seinem bereits elften Titelgewinn enden wird. Der MSV, für den laut Festschrift von 1952 damals intern alles zum Besten steht und der im Jahr des 25-jährigen Bestehens große Ambitionen gehegt hat, beendet die Saison so erneut als der Schatten der 08er (so der DGA), die Nummer 2 in der Stadt bleiben. Die beiden folgenden Spielzeiten werden die Zebras dann allerdings erst an den Hochfeldern und dann sogar am lang so übermächtigen DSV vorbeiziehen sehen.
Quellen
- 1. Niederrheinbezirksliga, in: Rhein- und Ruhrzeitung, 24.01.1927, Morgen-Ausgabe (Nr. 38), S. 6.
- Die Entscheidung im Duisburger Stadion, in: Rhein- und Ruhrzeitung, 04.02.1927, Abend-Ausgabe (Nr. 59), S. 5.
- Eckner: Wer macht das Rennen?, Duisburger General-Anzeiger, 05.02.1927, Morgen-Ausgabe (Nr. 60), S. 7.
- Eckner: Norddeutschland : Westdeutschland 4:3 (1:2), in: Duisburger General-Anzeiger, 07.02.1927, Morgen-Ausgabe (Nr. 62), S. 3f.
- h.: 08 Meister der Gruppe B, in: Duisburger General-Anzeiger, 07.02.1927, Morgen-Ausgabe (Nr. 62), S. 4.
- Pajo.: Wie das Spiel verlief, in: Duisburger General-Anzeiger, 07.02.1927, Morgen-Ausgabe (Nr. 62), S. 4f.
- Duisburg 08 wird Sieger der B-Gruppe, in: Duisburger General-Anzeiger, 07.02.1927, Abend-Ausgabe (Nr. 63), S. 1.
- Die Entscheidung im Stadion, in: Rhein- und Ruhrzeitung, 07.02.1927, Morgen-Ausgabe (Nr. 62), S. 6.
- Duisburger Fußballverein 08 – Meidericher Spielverein 3:2 (2:1), in: Rhein- und Ruhrzeitung, 07.02.1927, Abend-Ausgabe (Nr. 63), S. 3.
- 50 Jahre Meidericher Spielverein: 1902-1952. Jubiläumsfestschrift. Duisburg 1952.
- Dahmen, Dagmar u. a.: MSV Duisburg - Die Chronik: Wo Meiderich siegt... 2. Aufl. Duisburg 2005 [1. 2002].
- Deutscher Sportclub für Fußball-Statistiken (Hrsg.): Fußball in Westdeutschland 1902/03–1932/33: Ergebnisse und Tabellen aus den höchsten Ligen des Westdeutschen Spielverbandes und der Einzelverbände der Region. [Wiesbaden] 2009.
- Duisburger Fußballverein 08: Der Verein/Galerie, o. D., https://www.dfv-08.de/der-verein-galerie.
- Piesczek, Dirk/Schulze-Marmeling, Dietrich: Duisburg: Die erste Fußball-Hochburg des Ruhrgebiets, in: Hering, Hartmut (Hrsg.): Im Land der tausend Derbys: Die Fußball-Geschichte des Ruhrgebiets. [Aktualisiert] Göttingen 2017, S. 43-47.
Stand: 21.04.2021
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