Die abgebrochene Saison 1944/45:
Zur Kriegsspielgemeinschaft Meiderich 02/06
von Martin Blasius
Als die COVID-19-Pandemie im März 2020 auch den Profifußball in eine Pause zwang und gar ein Abbruch der Saison denkbar wurde, entsannen sich wohl nur sehr wenige MSV-Fans der Spielzeit 1944/45 – der bisher einzigen vorzeitig eingestellten Serie der Vereinshistorie: Inmitten der Grauen von NS-Diktatur und Bombenkrieg lief der Spielverein in diesem letzten Jahr des „totalen“ Zweiten Weltkriegs im Rahmen einer Kriegsspielgemeinschaft (KSG) mit seinem Ortsnachbarn Meiderich 06 auf. Über das temporäre Bündnis informiert uns vor allem der Duisburger General-Anzeiger (DGA), damals das letzte noch verbliebene lokale Tagesblatt neben der National-Zeitung der NSDAP. Seine Berichte stellten Fußball so lang wie möglich als ein Stück „normalen“ Alltags dar.1
Die Zebras und die Sportvereinigung 06 aus Untermeiderich-Berg (bis 1919 Hohenzollern, heute Meiderich 06/95) waren 1944 bereits über Jahrzehnte Rivalen: Ab 1914 hatten beide Clubs lange Zeit erstklassig und oft in einer Staffel gespielt, wobei der MSV als dreifacher Bezirksmeister, Vizechampion im Westen 1929 und zweimaliger Teilnehmer der Endrunde der deutschen Meisterschaft weit erfolgreicher gewesen war. Die neue Gauliga Niederrhein – später Bereichsklasse – hatte 1933 aber auch der Spielverein verpasst, die Zeit des nationalsozialistischen Regimes verbrachte er als Zweitligist in der 1. Bezirksklasse. Vorsitzender war ab 1937 der frühere Spieler Gerhard Haferkamp (bereits 1908 aktiv). 1943/44 holte man in der Nordgruppe des Bezirks Duisburg-Mülheim den vierten Platz, Meiderich 06 (1938 bis 1942 nur drittklassig) den dritten.2
Auch in Meiderich bestand die Herrschaft der Nationalsozialisten, die sich sowohl auf brutale, oft eliminatorische Ausgrenzung und Repression als auch Propaganda und Zustimmung stützte, dabei bis zuletzt. Ihre Inhumanität wie Alltäglichkeit zeigte sich besonders offen etwa im KZ-Außenlager unweit der Anlage des MSV. Dazu begannen die Auswirkungen des Krieges vor Ort ab 1940 immer deutlicher spürbar zu werden. Hatten anfangs vor allem Einberufungen zum Militär und wachsende Geldsorgen die Sportvereine belastet, bedeutete der Duisburg als Industriestadt sehr hart treffende Bombenkrieg mit bis 1945 insgesamt 299 Angriffen der britischen und US-amerikanischen Luftstreitkräfte nun immer wieder vielfachen Tod, Zerstörung und Mangel.
Durchhalten ließen die Zebras Jugendliche und vor allem Soldaten einer offenbar gleich neben der Anlage an der Westender Straße liegenden Flak-Batterie. Anlässlich der Testspiele gegen Duisburg 08 (4:4), Mülheim 07 (6:1), die um den SC Rot-Weiß gebildete KSG Oberhausen (2:0, 2:6) und Meiderich 06 (5:5) erwähnte der DGA im Sommer 1944 mehrmals ihre Gastspieler, ihre Soldaten, die für den jeweiligen Heimatclub und parallel an ihrem Stationierungsort spielberechtigt waren – und zwar eine ganze Reihe. Die A-Jugend des Spielvereins stand im August als Kombination mit Reichsbahn Ruhrort übrigens im Gebietsfinale, noch im Mai gab es außerdem eine Gehörlosen-Elf. Die rot-schwarzen „06er“ indes trafen neben dem MSV auf Union Mülheim (1:7), „08“ (2:2) und die KSG Hamborn (3:3).3
Angesichts der Landung der Alliierten in der Normandie im Juni 1944 und ihres Vormarschs sollte der Sport als nationalsozialistische Leibeserziehung unbedingt den Betrieb aufrechterhalten, um weiter die Wehr- und Schaffenskraft des deutschen Volkes zu stärken. In diesem Sinn wurde Anfang August angeregt, dass in allen Vereinen noch einmal ihr Spielermaterial überprüft und wenn nötig die Bildung von Kriegs-Spiel-Gemeinschaften erwogen werden solle. Ziel war der provisorische Zusammenschluß von zwei oder drei Vereinen, die aus eigener Kraft keine vollständige Mannschaft mehr stellen können. Solche KSG gab es dabei gerade am Niederrhein schon viele: Bereits 1943 hatten so die Bereichsligisten Duisburg 48/99, Hamborn 07, Rot-Weiss Essen und Rot-Weiß Oberhausen diesen Weg gewählt, 1944 dann auch Fortuna Düsseldorf.4
MSV und „06“ verfügten zwar nach wie vor über vollzählige Teams und auch ihre Sportplätze, fünf Tage nach dem Testkick gegeneinander am 20.08. schrieb der DGA aber dennoch: Die beiden Meidericher Vereine wollen sich zu einer Kriegsspielgemeinschaft zusammenschließen. Damit stellten sie sich offenbar auf weitere Verschärfungen der Lage ein und konnten gleichzeitig das eigene Leistungsniveau anheben. Kombiniert trat man am 27.08. beim TuS Helene Essen an, dem man in einem schönen und offenen Spiel 2:5 unterlag. Die gute Elf ging gegen den Gaumeister von 1941 zunächst zweimal in Führung, zur Pause stand es 2:2. Im zweiten Abschnitt folgten Chancen für beide Mannschaften, bis dann nach und nach die spielerisch besseren Helenen mehr zur Geltung kamen.5
Am nächsten Sonntag traf man in Meiderich auf den Homberger Spielverein, der sich knapp vor dem Ende des Spiels einen etwas überraschenden 4:3-Sieg sicherte. Im Vorfeld hatte der DGA geurteilt, die Meidericher Kombination habe in Essen eigentlich die Feuerprobe schon bestanden. Ohne verschiedene gute Spieler bot sie gegen Homberg zwar ein gleichwertiges Spiel, doch genügten die Treffer von Mittelstürmer Borchardt (MSV) zum 1:0, Kasmirske („06“) zum 2:1 und Linksaußen Görgen zum 3:2 letztlich nicht: Erst machten die Gäste das 3:3, kurz vor dem Schlusspfiff erzielten sie letztlich auch noch den Siegtreffer. Vier Tage später hielt „06“ dann eine Generalversammlung im Meidericher Parkhaus ab, und am 08.09. erwähnte der General-Anzeiger erstmals die KSG. Meiderich.6
Am 10.09. empfing diese die ebenfalls kürzlich entstandene KSG Westende/Schwarz-Weiß Hamborn (Westende war 1943 Gaumeister sowie 1944 Zweiter gewesen) – und war zuvor durchaus stark eingeschätzt worden: Man sei gut bewährt und werde eine gute Klinge führen. Die Gäste siegten an der Honigstraße aber klar überlegen 6:1. Das Feuer der neuen Spielgemeinschaft war zu schnell erloschen: Erst hatte sie Gegentore durch starken Einsatz vermieden, bis zur Pause aber drei kassiert. Der Ehrentreffer durch den eifrig nachsetzenden Anthek fiel erst beim Stand von 0:5. Im Team fehlte noch das nötige Verständnis, gelobt wurden jedoch verschiedene gute Einzelspieler, gerade Offensiv-Ass Anthek (auch für die Duisburger Stadtauswahl aktiv und noch in den späten 1940er Jahren bei den Zebras engagiert) sowie der ehemalige Osterfelder Pree.7
Zum Auftakt der 1944/45 nur noch in einer Gruppe ausgespielten Bezirksklasse Duisburg Mülheim am 17.09. gerieten die mit großem Elan auftretenden Meidericher und ihre Gastspieler an der Westender Straße gegen den Gauliga-Absteiger KSG Hamborn (1943 vom Vorjahresmeister „07“ und Union 02 gebildet) durch ein Selbsttor des linken Läufers Schriedels in Rückstand, zur Halbzeit stand es durch Anthek aber 2:1. Im zweiten Teil brachen die Gäste dann auseinander und wurden nach Belieben mit 13:1 überfahren: Die Meidericher kamen auch in regelmäßigen Abständen zu den weiteren Erfolgen, an denen sich alle Stürmer beteiligten. Nach diesem Ausrufezeichen waren sie erster Tabellenführer, doch weil schon am Folgetag die Bereichsliga wegen Reiseschwierigkeiten abgebrochen wurde, setzte der Verband die Bezirksklasse neu an, die um die lokalen Erstligisten erweitert und erneut entlang der Ruhr zweigeteilt wurde.8
Gegner im Norden sollten nun die KSG Westende/Schwarz-Weiß (A), der SV Laar 21 (H), die KSG Hamborn 07/02 (A), Gelb-Weiß Hamborn (H), der SV Beeckerwerth (H), die KSG Ruhrort (A), Grün-Weiß Beeck (H) und der TuS Neumühl (A) sein. Zum Neustart am 24.09. hatte geschickte Mannschaftsumstellung in Meiderich eine Einheit herausgebracht, die bei Westende/Schwarz-Weiß am Rönsbergshof ein 2:2 erreichte. Erst kassierte sie ein Tor, kam aber nach einer Ecke durch Rechtsaußen Anthek aus dem Gedränge zum 1:1-Pausenstand. Erst in der 83. Minute machten die dominanten, aber ineffektiven Gastgeber das 2:1, doch setzten die Meidericher alles auf eine Karte, bis sie durch den Halbrechten Schatz (MSV) kurz vor Schluss erneut ausglichen.9
Am 01.10. schlug das Team den SV Laar 21, der Ausfälle zu beklagen hatte und auch spielerisch klar im Nachteil war, deutlich überlegen mit 7:2. Die Gäste fanden ihren besten Spieler im Torwart, wogegen der heimische Sturm mit Anthek, Kasmirske, Schatz, Görden und Noll die Laarer Hintermannschaft stark durcheinander brachte. Als Motor fungierte Wassermann (MSV). In der 25. Minute kam Meiderich durch den Halbrechten Kasmirske zum 1:0, kassierte dann aber zunächst den Ausgleich, bevor zwei Treffer von Schatz bis zum Seitenwechsel eine Führung von 3:1 herstellten. Auch in der zweiten Hälfte hatten die Hausherren mehr vom Spiel, und so kamen sie zu vier weiteren Treffern, wobei sich Schatz sowie Anthek noch jeweils zweifach auszeichneten.10
Drei Wochen nach dem hohen Kantersieg über die KSG Hamborn musste man beim Gastspiel bei ebendieser am 08.10. plötzlich mit vollem Einsatz kämpfen, um am Ende noch 4:0 zu siegen, obwohl die Hausherren an den beiden ersten Spieltagen jeweils keine vollständige Elf hatten stellen können: Nach dem frühen Führungstreffer direkt unter die Latte setzten die Meidericher sich erst im zweiten Abschnitt wirklich durch und machten in gleichen Abständen drei weitere Tore, von denen allerdings zwei durch grobe Abwehrfehler der Hamborner ermöglicht wurden. In allen Teilen besser besetzt siegten sie laut Duisburger General-Anzeiger aber insgesamt verdient und lagen nach drei gespielten Runden mit jetzt fünf Punkten hinter Gelb-Weiß Hamborn auf dem zweiten Platz der Tabelle.11
Während die Hockeyabteilung des MSV im frühen Oktober noch eine neue Frauen-Elf wie auch eine HJ.-Mannschaft aufstellte, sollten die Kicker der KSG am 15.10. auf Biegen und Brechen gegen „Gauligist“ Gelb-Weiß Hamborn um die Spitze spielen. Dann jedoch brachten die schwersten Luftangriffe der Kriegsjahre Duisburg am 14. und 15.10. mehr als 3000 Tote sowie massive Schäden (wohl auch an der Platzanlage des Spielvereins), das öffentliche Leben und der Sportbetrieb brachen weitgehend zusammen. Ligaspiele folgten nun keine mehr, obwohl die Front bis zum Frühjahr 1945 vorläufig am von Kleve bis Basel reichenden Westwall stabilisiert wurde. Mitte November kündigte der DGA nochmals Meiderichs Partie beim TuS Neumühl an, doch kam auch diese nicht mehr zur Austragung.12
Das letzte Fußballspiel (zwischen Duisburg 08 und eben den Neumühlern) sah die Stadt Mitte Januar 1945, am 29.03. zogen die Amerikaner wenige Tage nach der Rheinüberquerung nördlich des Ruhrgebiets schließlich in Meiderich ein. Südlich der Ruhr endete der Zweite Weltkrieg dann am 12.04.1945. Die KSG Meiderich 02/06, deren Existenz von der Ausnahmesituation des wachsend „totalen“ Krieges abhing, bestand somit nur einige wenige Monate. Sportlich war sie unter den damaligen Umständen recht erfolgreich und trug einen kleinen Teil zum Erhalt von „Normalität“ und Moral vor Ort bei, doch zeigten schon ihre Bildung sowie das Schrumpfen und dann das Ende des Spielbetriebs zugleich, wie rapide sich die Kriegslage verschlechterte. Zügig stellten MSV und „06“ dann wieder separate Mannschaften auf, und schon im August 1945 sollte erneut ein erstes Aufeinandertreffen folgen.13
Anmerkungen
Für die Bereitstellung des Mannschaftsfotos 1948/49 aus dem privaten MSV-Archiv danke ich Wolfgang Berndsen.
1 Die Rhein- und Ruhrzeitung erschien nur bis Ende 1940, das Verbandsblatt Die Westdeutsche Fußball-Woche bis 1943, der DGA bis 28.03.45 (später nur noch einige Notnummern). Hinzu treten (im Folgenden nicht einzeln ausgewiesen) Hering, H.: Ein Volk, ein Ball, ein Führer? Fußball unterm Hakenkreuz, in: Ders. (Hrsg.): Im Land der tausend Derbys. Die Fußball-Geschichte des Ruhrgebiets. Göttingen 2017, S. 149-162, bes. 161f.; Dahmen, D. u. a.: MSV Duisburg. Die Chronik: Wo Meiderich siegt... 2. Aufl. Duisburg 2005, S. 24-48, 142, 217; Dembowski, G. u. a.: Im Revier der Zebras. Die Geschichte des MSV Duisburg. Göttingen 2001, S. 37-48; [Schauppmeier, K.]: SportReport, Serie A - Band 5: Meidericher Spielverein. Regensburg 1965, S. 16f.; Fussballarchiv für den Emschertaler Raum, o. D., https://web.archive.org/web/20101010030627/http://file1.npage.de/006152/50/html/start.htm; Barbian, J.-P. u. a. (Hrsg.): Nationalsozialismus in Duisburg 1920-1945. Eine Einführung mit Bibliografie und Fotografien der Zeit. Essen 2009; [Kanther, M. A./Olejniczak, M.]: Bomben auf Duisburg. Der Luftkrieg und die Stadt 1940 bis 1960. 2. Aufl. Duisburg 2015.
2 Vgl. DGA, 15.05.44, S. 3f.; 08.05.39, S. 10; 14.05.40, S. 7; 17.03.41, S. 4; 20.04.42, S. 4; 03.05.43, S. 3.
3 DGA, 21.07.44, S. 4; 18.08., S. 4; 16.06., S. 4. Vgl. 12.05., S. 3f.; 15.05., S. 3 (dort auch ein Front-Urlauber Gräwe); 12.06., S. 4; 24.07., S. 3; 07.08., S. 3; 21.08., S. 3. Zur Jugend 14.08., S. 3. Vgl. 20.05., S. 4; 22.05., S. 3; 30.05., S. 3; 11.08., S. 4; zur Gehörlosen-Abt. 12.05., S. 4; 15.05., S. 3. Zu Meiderich 06 noch 30.05., S. 3.
4 DGA, 11.09.44, S. 3; 07.08., S. 3.
5 DGA, 25.08.44, S. 4; 28.08., S. 3.
6 DGA, 01.09.44, S. 4; 04.09., S. 3; 06.09., S. 4; 08.09., S. 4.
7 DGA, 11.09.44, S. 3. Zu Anthek vgl. noch 10.07., S. 3.
8 DGA, 18.09.44, S. 3; 15.09., S. 4.
9 DGA, 18.09.44, S. 3; 22.09., S. 4; 25.09., S. 3.
10 DGA, 02.10.44, S. 3.
11 DGA, 09.10.44, S. 3; 06.10., S. 4.
12 DGA, 13.10.44, S. 4. Vgl. 11.11., S. 4.
13 Vgl. DGA, 18.01.45, S. 4.
Stand: 12.03.2021
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